Interdisziplinäre Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB): Ziele, Herausforderung und Chance - PDF Free Download (2024)

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1 Fachtagung vom 8./ in Freiburg Arbeitskreis 10 Interdisziplinäre Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB): Ziele, Herausforderung und Chance Peter Dörflinger, lic. iur. Rechtsanwalt, Präsident Vormundschaftsbehörde Kreis Chur Die Vormundschaftsbehörde des Kreises Chur arbeitet seit Juni 2009 als professionalisierte und interdisziplinär zusammengesetze Behörde gemäss den organisatorischen Vorgaben des revidierten Kindes- und Erwachsenenschutzrechts. Interdisziplinarität ist ein zentrales Thema bei der Zusammensetzung der KESB. Die Wahl z.b. eines Juristen, einer Sozialarbeiterin und eines Lehrers in die KESB dürfte grundsätzlich nicht allzu schwer fallen. Und dann? Im Arbeitskreis soll zunächst den Fragen nachgegangen werden, was im Hinblick auf die Revision des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts unter Interdisziplinarität konkret verstanden werden soll und welche (Ideal-) Ziele mit einer interdisziplinär zusammengesetzten KESB verfolgt werden wollen. Daraus abgeleitet ergibt sich, dass die Zusammensetzung der Behörde eine unabdingbare Voraussetzung, aber keine hinreichende Garantie für eine «bessere Arbeit» im Sinne des revidierten Kindes- und Erwachsenenschutzrechts ist. Vielmehr ist in der Gestaltung der konkreten Arbeit und Prozessabläufe in einer KESB der interdisziplinäre Ansatz bewusst zu fördern und zu pflegen. Eine KESB wird nie alle in einem Fall allenfalls angesprochenen Disziplinen abdecken können. Welche Implikationen ergeben sich daraus für die konkrete Arbeit? Abschliessend sollen auch Grenzen des interdisziplinären Ansatzes in einer KESB ausgelotet werden. Der Arbeitskreis wird so gestaltet sein, dass Inputreferate mit einer praktischen Gruppenübung ergänzt werden. Anregungen und Fragen aus der konkreten Praxis der Teilnehmenden sollen einfliessen können. Beilagen: Folienhandout Artikel Interdisziplinarität gestalten aus der Praxis einer professionalisierten, interdisziplinär zusammengesetzten Fachbehörde (publiziert in ZKE 3/2010, S. 177 ff.) Die Unterlagen zum Arbeitskreis stehen im Nachgang zur Tagung auf Aktuell Tagung 2010 zum Download bereit.

2 Fachtagung KOKES (8./) Interdisziplinarität: Ziele, Herausforderung, Chance KOKES Tagung 2010 / Arbeitskreis 10 RA lic. iur. Peter Dörflinger Präsident VB Kreis Chur Übersicht I. Begrifflichkeit, Ziele II. Fallbeispiel III. Ableitungen aus der Praxis (der VB Chur) Zusammensetzung KESB Gestaltung Abklärungsprozess Hilfsmittel für Abklärungsprozess IV. Grenzen V. Ihre Fragen / Bemerkungen 2

3 Fachtagung KOKES (8./) I. Begrifflichkeit, Ziele 1. Disziplinen / Kompetenzen* Kernkompetenzen (in Behörde vertreten) Recht Sozialarbeit Pädagogik / Psychologie Unterstützungsbedarf (behördeintern / extern abrufbar) Recht, Sozialarbeit, Psychologie Treuhand, administrativ delegierbare Kompetenzen Medizin, Psychologie, Pädagogik Treuhand, Sozialversicherungsrecht * vgl. Beilage 2 Empfehlungen VBK (ZVW 2/2008) 3 I. Begrifflichkeit, Ziele 1. Disziplinen / Kompetenzen Behörde > in der Regel als Kollegium tätig Interdisziplinäre Zusammenarbeit + unterschiedliche Herangehensweisen / Methodenpluralismus + unterschiedlicher Fokus (z.b. Individuum System) + aktiver Diskurs Spezialisierung in Medizin, Psychologie, Pädagogik etc. unterschiedliche Schulen / Praxen (z. B. in Sozialarbeit: streetworker vs. case management / im Recht: zwei Juristen, drei Meinungen ) 4

4 Fachtagung KOKES (8./) I. Begrifflichkeit, Ziele 2. Ziele, die mit Interdisziplinarität verfolgt werden (gegenüber status quo unter geltendem Recht mit vielen Laienbehörden) Qualitätssteigerung / Qualitätssicherung* Wiederherstellung der Hierarchie mit der Behörde als fachlich kompetente Entscheidungsträgerin** * vgl. z.b. Affolter, ZVW 5/2003, S. 393 ff. ** vgl. z.b. Vogel/Wider, ZKE 1/2010, S. 7 5 I. Begrifflichkeit, Ziele 2. Ziele, die mit Interdisziplinarität verfolgt werden (gegenüber status quo unter geltendem Recht mit vielen Laienbehörden) Woran ist Qualität einer KESB zu messen*? (vorgelagerter) Rechtsschutz im Abklärungsverfahren > verfahrensrechtliche Leitplanken (kant. VO, EGzZGB bis EMRK) Einbezug der Betroffenen/des Umfelds differenzierte Analyse der konkreten Defizite und Ressourcen verhältnismässige Massnahme mit klaren Aufträgen Auswahl geeignete Mandatsführende/Institutionen sowie angepasste Instruktion, Aufsicht und Kontrolle regelmässige Überprüfung der Notwendigkeit, Geeignetheit und Verhältnismässigkeit der Massnahme bzw. der Aufträge zeitgerechte Entscheide / Effizienz * vgl. z.b. Affolter, ZVW 5/2003, S. 393 ff. 6

5 Fachtagung KOKES (8./) II. Fallbeispiel Auftrag I: Bilden Sie 5er Teams, die eine KESB (3er Kollegium) samt 2 Mitarbeitenden (Abklärungsdienst: 1 SozialarbeiterIn, 1 JuristIn) darstellen. (Ihre persönlichen fachlichen Hintergründe sollen nach Möglichkeit in die Rollen einfliessen, die Sie einnehmen.) Sie erhalten nachfolgende Gefährdungsmeldung Wie geht Ihre KESB möglichst interdisziplinär an diesen Fall heran (Triage behördeintern, Informationsbeschaffung etc.)? Zeit 10 7 II. Fallbeispiel Gefährdungsmeldung Bei der KESB geht eine schriftliche Gefährdungsmeldung einer Nachbarin ein. Darin wird berichtet, eine Mutter im gleichen Haus würde ihre Kinder häufig allein lassen, vor allem abends und nachts; zudem scheine übermässiger Alkohol und evtl. Cannabiskonsum Thema zu sein. Auch würden verschiedentlich Männer aus dem Milieu in der Wohnung der Familie verkehren. Anna rauche und hänge als 6. Klässlerin in der Punkszene am Bahnhof herum. Bettina habe sich ihr schon anvertraut, die Mutter sei faul und unternehme nie etwas mit ihnen. Eine andere Nachbarin meldete am gleichen Tag ebenfalls schriftlich, die Kinder seien manchmal tagelang alleine. Sie hätte zudem schon beobachtet, dass sich Bettina auch bei kalten Temperaturen leicht bekleidet stundenlang alleine im Garten aufhalte. Die Polizei übermittelt der KESB ein Einsatzprotokoll vom Tag vor der Gefährdungsmeldung: Eine Nachbarin (es ist die Melderin 1) rief abends um an und bat um eine Kontrolle durch eine Patrouille, da in der Wohnung der Nachbarsfamilie ein Kind längere Zeit stark geweint hatte und sich kaum beruhigen konnte. Beim Eintreffen der Polizei waren die Kinder alleine und ruhig. Die Mutter sei kurze Zeit später heimgekommen. 8

6 Fachtagung KOKES (8./) II. Fallbeispiel Kurzauswertung Triage 9 II. Fallbeispiel Erste Abklärungsergebnisse (Besprechung mit Mutter) Anna (Jg. 1997) und Bettina (Jg. 1999) leben mit ihrer Mutter in einer kleinen 4 Zi Wohnung in einem ruhigen Quartier. Bei der Scheidung der Eltern waren sie 7 und 5 jährig. Sorgerecht und Obhut wurden der Mutter zugesprochen. Bis vor drei Monaten fanden jedes zweite Wochenende Besuchstage beim Vater statt. Seither weigert sich Anna, zum Vater zu gehen. Die Mutter hat keine Ausbildung abgeschlossen. Heute arbeitet sie an drei verschiedenen Stellen im Reinigungssektor, teils frühmorgens und auch abends. Der Lebensunterhalt der Familie wird subsidiär zu den Alimentzahlungen des Vaters und dem Teilzeiteinkommen der Mutter durch Sozialhilfe sichergestellt. Der Vater arbeitet zu 100 % im Aussendienst. Aufgrund des Alters der Kinder erwartet die Sozialbehörde eine mindestens 50 % ige Erwerbstätigkeit der Mutter. Auftrag II: Welche weiteren Abklärungen halten Sie für unabdingbar für einen Massnahme Entscheid? Zeit: 10 10

7 Fachtagung KOKES (8./) II. Fallbeispiel Kurzauswertung Vorabklärung 11 III. Ableitungen aus der Praxis (der VB Chur) 1. Zusammensetzung der KESB Recht und Sozialarbeit sind tragende Disziplinen für die Qualitätssicherung Recht: Verfahrensgarantien, Grenzen und Möglichkeiten von Massnahmen, zustimmungsbedürftige Geschäfte, Kontrolle/Aufsicht Sozialarbeit: systemischer Ansatz, Praxistauglichkeit von Aufträgen an Mandatsführende, Kontrolle/Aufsicht individuelle Zusammensetzung (Team und Kommunikationsfähigkeit, gesicherte Fachlichkeit und Praxiserfahrung) beeinflusst Qualität der Arbeit ebenso Geschlecht des abklärenden Mitglieds kann in Abklärungen von grosser Bedeutung sein Weitere Disziplinen via interne Experten (stv. Behördemitglieder) oder Externe (Einholen Berichte, Gutachten etc.) sind immer möglich 12

8 Fachtagung KOKES (8./) III. Ableitungen aus der Praxis (der VB Chur) 2. Gestaltung Abklärungsprozess Give interdisciplinarity a chance Der Abklärungsprozess wird in weiten Teilen durch einzelne Behördenmitglieder/Mitarbeitende geführt während des Abklärungsprozesses werden bewusst und unbewusst Weichen gestellt Inter Disziplinarität muss: ermöglicht und bewusst gestaltet werden! 13 14

9 Fachtagung KOKES (8./) 15 16

10 Fachtagung KOKES (8./) III. Ableitungen aus der Praxis (der VB Chur) 3. Hilfsmittel für Abklärungsprozess standardisierter Situationsbericht schematische Zusammenfassung Abklärungsergebnisse Grundlage für Vorsitzung und Anfrage Mandatsführende (AV) soll Reflektion anregen Strukturierte Beschlussvorlagen Aufbau soll sicherstellen, dass an alles gedacht wurde soll Beschlüsse für andere Behördemitglieder (für Sitzung) und Betroffene möglichst nachvollziehbar machen 17 Standardisierter Situationsbericht (Ausschnitt) 18

11 Fachtagung KOKES (8./) Strukturierte Beschlussvorlagen (Ausschnitt) 19 IV. Grenzen / Gegenkräfte im konkreten Fall können kaum alle möglicherweise berührten (Teil ) Disziplinen abgedeckt werden Rechtsmittelinstanzen sind nicht interdisziplinär zusammengesetzt insbesondere externe Berichte/Gutachten sind interpretationsbedürftig > Grundlagenkompetenzen, Erfahrung und Urteilskraft nicht minder wichtig wie Fachlichkeit unterschiedliche Sichtweisen und Methoden müssen im Abklärungsprozess ihren Raum bekommen (Gestaltungsaufgabe) > Zeitdruck und Routine wirken in andere Richtung gewählte Fachpersonen müssen zusammenarbeiten wollen (Teamorientierung) und können (Team und Kommunikationsfähigkeit) 20

12 Fachtagung KOKES (8./) V. Ihre Fragen / Bemerkungen vergleiche zum Ganzen auch: ZKE 3/2010, S. 177 ff. (Beilage) 21

13 Dörflinger, Interdisziplinarität gestalten ZKE 3/2010 Interdisziplinarität gestalten aus der Praxis einer professionalisierten, interdisziplinär zusammengesetzten Fachbehörde von Peter Dörflinger, lic. iur., Rechtsanwalt, Präsident Vormundschaftsbehörde des Kreises Chur Die Vormundschaftsbehörde des Kreises Chur erfüllt seit dem 1. Juni 2009 die organisatorischen Vorgaben des revidierten Kindes- und Erwachsenenschutzrechts, indem die Behörde professionalisiert und die Mitglieder nach fachlichen Gesichtspunkten interdisziplinär ausgewählt wurden. Dies impliziert auch im Hinblick auf die Revision des Vormundschaftsrechts, Abläufe und Prozesse zu überdenken, damit die oft zitierte «Interdisziplinarität» mit konkreten Inhalten gefüllt werden kann. Réaliser l interdisciplinarité A partir de l expérience d une Autorité professionnelle, composée de manière interdisciplinaire Depuis le 1 er juin 2009, l Autorité tutélaire de l arrondissem*nt de Coire satisfait aux exigences du nouveau droit de protection des mineurs et des adultes, dès lors qu elle est devenue professionnelle et que ses membres ont été choisis sur une base interdisciplinaire, en fonction de leurs compétences spécifiques. Dans la perspective de la révision du droit tutélaire, cela implique de repenser certains modes de faire et certaines démarches, afin que «l interdisciplinarité» souvent évoquée puisse être réalisée de manière concrète et effective. Realizzare l interdisciplinarietà Dalla prassi di un autorità professionale e interdisciplinare Dal 1 giugno 2009, l autorità tutoria del circolo di Coira soddisfa le esigenze del nuovo diritto di protezione dei minori e degli adulti in quanto professionalizzata e con membri scelti su una base interdisciplinare in funzione delle loro specifiche competenze. Nella prospettiva della revisione del diritto tutelare ciò implica di ripensare percorsi e processi allo scopo di dare contenuti concreti alla spesso citata «interdisciplinarietà». VB Kreis Chur Der Kreisrat Chur hat im Sommer 2008 im Zuge personeller Wechsel beschlossen, die Vormundschaftsbehörde auf die Amtsdauer nach den Vorgaben des revidierten Erwachsenenschutzrechts zu konstituieren. Per 1. Juni 2009 wurden nach einem Ausschreibungs- und Bewerbungsverfahren ein ehemaliger Primarlehrer und Rechtsanwalt zum Präsidenten (100%), ein Heimerzieher/Sozialarbeiter und langjähriger Amtsvormund (100%) sowie eine Sozialarbeiterin FHS und ebenfalls langjährige Amtsvormundin (80%) zu ständigen Mitgliedern und Vizepräsidenten gewählt. Als stellvertretende Mitglieder (ohne festes Anstellungspensum) wurden eine Fachärztin FMH Psychotherapie/-analyse, ein Rechtsanwalt und ein eidg. dipl. Treuhänder bestimmt. Die Behörde wird unterstützt von Mitarbeitenden in der Revision (150%), im Abklärungs- und Rechtsdienst (160%) und in der Administration (100%). 177

14 ZKE 3/2010 Dörflinger, Interdisziplinarität gestalten Der Kreis Chur ist praktisch deckungsgleich mit der Stadt Chur, die aktuell rund Einwohner zählt. Die Vormundschaftsbehörde des Kreises Chur (VB Chur) führte im Jahr 2009 auf Grund von Gefährdungsmeldungen 242 Abklärungen durch, errichtete 176 neue Massnahmen und führte per Ende 2009 total 716 Massnahmen. II. Mit Interdisziplinarität verfolgte Ziele Mit Blick auf den Status quo im Vormundschaftswesen (verbreitete Abhängigkeit der Miliz- und Laienbehörden von externen Diensten und Fachleuten) ist nichts weniger als «die Wiederherstellung der Hierarchie mit der Behörde als fachlich kompetente Entscheidungsträgerin eines der Hauptanliegen der Revision des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts» 1. In der Diskussion um die Revision des Vormundschaftsrechts blieb daher unbestritten, dass eine Professionalisierung der Vormundschaftsbehörden und die Besetzung der Behörden durch fachlich ausgebildete Personen 2 aus verschiedenen Disziplinen 3 unumgänglich ist. Die Botschaft des Bundesrats zur Gesetzesnovelle führt lediglich ein Ziel aus, das mit der Interdisziplinarität verfolgt werden soll: «dass auf jeden Fall» ein Jurist oder eine Juristin für eine «korrekte Rechtsanwendung» verantwortlich sein muss 4. Die weiteren Ausführungen in der Botschaft beschlagen die instrumentelle Ebene: «Daneben sollten je nach Situation, die es zu beurteilen gilt, Personen mit einer psychologischen, sozialen, pädagogischen, treuhänderischen, versicherungsrechtlichen oder medizinischen Ausbildung mitwirken. Bei vermögensrechtlichen Fragen oder bei der Abnahme der Rechnungen sind beispielsweise auch Personen mit Kenntnissen in der Vermögensverwaltung oder der Rechnungslegung erwünscht» 5. Von einer interdisziplinär zusammengesetzten Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) darf im Hinblick auf formelle und inhaltliche Qualität erwartet werden, dass sie ihre Entscheidungen auf eine umfassende Situationsanalyse und die Beleuchtung eines Sachverhalts aus unterschiedlichen Blickwinkeln 6 abstützt. Damit wird der Bedeutung und Schwere der Eingriffe in die Rechtsgüter der Betroffenen, die mit vormundschaftlichen Massnahmen einhergehen können, Rechnung getragen. 1 Urs Vogel/Diana Wider, ZKE 2010/1, S. 7 ff., vgl. dazu auch Kurt Affolter, ZVW 2003/5, S nart. 440 Abs. 1 ZGB: «Die Erwachsenenschutzbehörde ist eine Fachbehörde.» 3 nart. 440 Abs. CC: «L autorité de protection de l adulte est une autorité interdisciplinaire.» 4 Botschaft, , BBL 2006, S Botschaft, , BBL 2006, S Diana Wider, Curaviva 5/2009, S. 22; vgl. auch Diana Wider in Peter Voll et al. (Hrsg.), Zivilrechtlicher Kindesschutz: Akteure, Prozesse, Strukturen, Luzern 2008, S. 214 ff. 178

15 Dörflinger, Interdisziplinarität gestalten ZKE 3/2010 III. Welche Disziplinen? «Das Bundesrecht schreibt im Interesse einer gewissen Interdisziplinarität und im Hinblick auf die grosse Tragweite der zu treffenden Massnahmen lediglich vor, dass die Behörde in der Regel als Kollegialbehörde mit mindestens drei Mitgliedern entscheidet» 7. Die meisten Kantone werden wohl Dreiergremien vorsehen, was dem allgemeinen Trend zur Verkleinerung der Spruchkörper bei Gerichten entspricht. Die Einschränkung auf einzelne Disziplinen, die mit einem kollegialen Spruchkörper von drei Mitgliedern einhergehen muss, aber auch die Fülle von Fachdisziplinen, die bei vormundschaftlichen Fragestellungen berührt sein können, machen bereits klar, weshalb der Bundesrat in seiner Botschaft einschränkend von einer «gewissen» Interdisziplinarität spricht. Die Konferenz der kantonalen Vormundschaftsbehörden (VBK bzw. KOKES) legt in ihren Empfehlungen 8 eine Analyse der künftigen Aufgaben der KESB vor und führt aus, welche Kernkompetenzen im Spruchkörper selbst vorhanden sein sollten und welche Kompetenzen extern (angestelltes Personal/Behördemitglieder, die im konkreten Fall nicht im Spruchkörper vertreten sind) herangezogen (Unterstützungsbedarf) oder via Delegation an Dritte (z.b. Gutachten, Sozialberichte etc.) eingebunden werden können 9. Als Kernkompetenzen, die ständig in der Behörde selbst vertreten sein sollen, werden die Disziplinen Recht und Sozialarbeit sowie Psychologie/Pädagogik genannt 10. Den Kantonen oder Wahlgremien der KESB ist zudem zu empfehlen, dass die angemessene Vertretung der Geschlechter bei der Bestellung der Behörde als zusätzliches Kriterium berücksichtigt wird 11, denn kaum ein Rechtsgebiet ist so sehr mit Rollenerwartungen auf Grund des Geschlechts konfrontiert wie das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht. IV. Ansätze und Bemerkungen aus der Praxis Die VB Chur arbeitet seit dem 1. Juni 2009 als professionalisierte Fachbehörde, in der die Disziplinen Recht/Pädagogik (Präsident) und Sozialarbeit (zwei ständige Mitglieder der Behörde) vertreten sind. Weitere Disziplinen (Medizin/ Psychiatrie sowie Treuhand) können über die stellvertretenden Mitglieder behördenintern herangezogen werden (vgl. I oben). Im Vergleich zu den Empfehlungen zur Verteilung der personellen Ressourcen von Vogel/Wider 12 entspricht die VB Chur dem Modell mit zentralisierter Abklärung durch die Behörde selbst. Mit 280 von total 690 Stellen-% entfallen rund 40% der personellen Ressourcen auf die Behörde selbst, während Abklärungs- 7 Botschaft, , BBl 2006, S (zu nart. 440 Abs. 2 ZGB). 8 ZVW 2008/2, S. 63 ff. 9 Beilage 2 zu den Empfehlungen (ZVW 2008/2, S. 117 ff.). 10 ZVW 2008/2, S In die gleiche Richtung gehen die Empfehlungen der VBK/KOKES, ZVW 2008/2, S Vgl. Urs Vogel/Diana Wider, ZKE 2010/1, S. 15 ff. 179

16 ZKE 3/2010 Dörflinger, Interdisziplinarität gestalten und Rechtsdienst zusammen «nur» mit 24% ausgestattet sind. Entsprechend führen die Behördemitglieder im «Churer Modell» die überwiegende Mehrheit der Erstabklärungen (Verfahren nach Gefährdungsmeldungen) und Abklärungen (z.b. Anträge auf Änderungen von Massnahmen) selbst durch. Die Erfahrung hat gezeigt, dass auch bei umfassender Dokumentation des Abklärungsprozesses das Einfliessen von unmittelbaren Eindrücken aus der Abklärung durch persönliche Berichterstattung ein wertvolles Element bei der Entscheidfindung darstellt. Diese Erkenntnisquelle muss bei Abklärungen durch den Abklärungsdienst (oder Dritte) auf schriftlichem Weg (mit entsprechendem Informationsverlust) zusätzlich aktiv herangezogen werden. Auch unter professionalisierten Bedingungen (hohe Präsenz mit der Möglichkeit, Behördesitzungen auch ad hoc einzuberufen) ist ein organisatorischer Grundrhythmus einzuhalten, an dem sich z.b. das Revisorat und der Rechtsdienst orientieren können. Die VB Chur tagt in der Regel alle zwei Wochen und bereitet die Behördesitzungen in einem um eine Woche vorverschobenen Rhythmus (sog. Vorsitzung) vor, was sich auch mit Blick auf die Anfragen an die Amtsvormundschaft zur Benennung von geeigneten Mandatsträgern gut eingespielt hat. Im zweiwöchentlichen Turnus umfasst die Traktandenliste jeweils zwischen 30 und 40 Fälle, die zur Entscheidung anstehen. Komplexe oder nicht eindeutige Fälle werden auf Grund der Abklärungsergebnisse an der Vorsitzung von der Behörde unter Beizug der abklärenden Personen besprochen. Erst in diesem Zeitpunkt erschliesst sich letztlich, welche fachlichen Überlegungen allenfalls zusätzlich in die Entscheidung einfliessen müssen. A. Volatiler vs. konstanter Spruchkörper Interdisziplinarität impliziert vom Grundgedanken her, dass der Spruchkörper je nach Fall unterschiedlich (volatil) zusammengesetzt ist. Zur Einbindung von Disziplinen, die nicht ständig in der Behörde vertreten sind, schlagen Experten und die KOKES vor, diese (im Milizsystem) als stellvertretende Behördemitglieder einzubinden (auch als überregionaler Fachpool denkbar) 13. Dem steht die Erkenntnis gegenüber, dass die Routine und Praxis der Mitglieder einer KESB ihr Entscheidverhalten beeinflusst 14. Bereits aus praktischen Gründen (zeitliche Verfügbarkeit insbesondere stellvertretender Behördemitglieder im Milizsystem, zeitgerechte Entscheidungen) kann sich die Besetzung der Behörde nicht in jedem konkreten Fall nach den tangierten Fachdisziplinen richten. Zudem gibt es immer wieder Fälle, deren Komplexität den Einbezug von mehr als drei Disziplinen verlangen würde 15. In grösseren Organisationseinheiten (z.b. überregio- 13 Vgl. z.b. Urs Vogel, ZKE 2010/1, S «Behörden mit geringer Fallbelastung neigen tendenziell zu restriktiveren Eingriffen in die Kinder- und Elternrechte.» (Diana Wider in Peter Voll et al. (Hrsg.), Zivilrechtlicher Kindesschutz: Akteure, Prozesse, Strukturen, Luzern 2008, S. 221). 15 Zudem ist auf den zunehmenden Spezialisierungsgrad z.b. in Medizin, Psychiatrie/Psychologie, Recht und Pädagogik sowie auf unterschiedliche Praxen und Lehrmeinungen hinzuweisen. 180

17 Dörflinger, Interdisziplinarität gestalten ZKE 3/2010 naler Fachpool) ist eine genügende Auslastung der (stellvertretenden) Behördemitglieder mit Unterstützungskompetenz (vgl. III oben) eher möglich. Dabei ist allerdings zu fordern, dass diese (Pool-)Mitglieder unter professionalisierten Rahmenbedingungen (feste Minimalpensen) arbeiten können, damit nebst genügender Routine auch eine kurzfristig flexible Einsetzbarkeit sichergestellt ist. Die VB Chur tagt nach Möglichkeit in konstanter Besetzung. Als wertvoll hat sich für die VB Chur allerdings die Möglichkeit erwiesen, die stellvertretenden Mitglieder fallweise im Laufe der Abklärung für bestimmte Fragestellungen (z.b. Bewertung von Gutachten) als behördeninterne Experten beiziehen zu können. Im Grundwiderspruch zwischen Interdisziplinarität (> volatiler Spruchkörper) und Professionalität (> konstanter Spruchkörper) überwiegen aus praktischer Sicht und im Hinblick auf das gemeinsame übergeordnete Ziel der Qualitätssicherung die Vorteile eines konstanten Spruchkörpers 16. B. Abklärungsprozess interdisziplinär gestalten Bei der Zuteilung der Abklärungsfälle auf die Behördemitglieder oder behördeninternen Dienste sind nebst der Fachlichkeit der einzelnen Personen noch andere Kriterien zu berücksichtigen (z.b. Ausstandsgründe, zeitliche Verfügbarkeit, Auslastung). Gefährdungsmeldungen beleuchten zudem meist nur einen oder wenige Aspekte eines Problems, sodass sich die Komplexität eines Falles erst im Laufe der Abklärungen offenbart. Deshalb sind im Abklärungsprozess Schnittstellen zu schaffen, an denen in einem möglichst interdisziplinären Diskurs auf solche «Entwicklungen» reagiert werden kann. 1. Disziplin Sozialarbeit und professionelle Betreuungspersonen In der Praxis wird bei laufenden Mandaten, die an professionelle Betreuungspersonen übertragen wurden, auch unter dem neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht ein grosser Teil der Abklärung durch die Mandatsführenden erfolgen, die in aller Regel über sozialarbeiterische Kompetenzen verfügen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Betreuungspersonen in der Mandatsführung eine operative Rolle übernehmen, während die Behörde bei ihren Entscheidungen primär einen strategischen Ansatz zu verfolgen hat. Das für den Einzelfall zuständige Mitglied der Behörde hat daher unter anderem die Berichte und Anträge kritisch daraufhin zu prüfen, ob rollenbedingte «blinde Flecke» auszuleuchten sind. Ähnliches gilt bei Abklärungen, die durch interne Mitarbeitende geführt wurden, die nicht Mitglied der Behörde sind. Mit Blick auf eine der auch quantitativ bedeutendsten Aufgaben einer KESB, nämlich die Aufsicht und Kontrolle über die Mandatsführenden, kommt deshalb der Vertretung der Disziplin Sozialarbeit (mit Erfahrung in der gesetzlichen Sozialarbeit) in der Behörde eine besondere Bedeutung zu. 16 Ebenso VBK/KOKES, ZVW 2008/2, S

18 ZKE 3/2010 Dörflinger, Interdisziplinarität gestalten 2. Grundlagenkompetenzen gefragt Auch eine falladäquat interdisziplinär zusammengesetzte Behörde wird mit externen Fachstellen zusammenarbeiten und Ergebnisse Dritter in ihre Arbeit einbeziehen müssen (Gutachten, Unterlagen und Berichte von Vorbehörden, Gerichtsurteile etc.). Ein Behördemitglied muss daher in der Lage sein, sich einen Überblick zu verschaffen und diesen zu behalten, ungeklärte Fragen zu identifizieren und Antworten einzuordnen. In diesem Sinne ist die Fachlichkeit der Behördemitglieder als Grundlagenkompetenz zu verstehen, die es der Behörde ermöglicht, darüber zu entscheiden, ob eine Abklärung vollständig ist und wie widersprüchliche Informationen einzuordnen und zu gewichten sind. Das Präsidium sollte nebst Kompetenzen im materiellen Recht auch über prozessuale Kompetenzen (Gericht oder Advokatur) verfügen, da die Verfahrensleitung insbesondere dann, wenn Betroffene durch Anwältinnen und Anwälte vertreten sind, anspruchsvoller wird. 3. Strukturierung der Prozesse Die Abklärungsprozesse sind so zu strukturieren, dass interdisziplinäre Überlegungen bei der Fallzuteilung, während und vor Abschluss der Abklärungen einfliessen können. Um die Qualität auch unter zeitlichem Druck (in der Regel bei Fremdplatzierungen und FFE besonders gross) und angesichts der Gefahr der Verflachung von Prozessen in der täglichen Routine sicherzustellen, sind strukturierende Instrumente zu implementieren (z.b. Ablaufschemata mit Definierung von Schnittstellen, Checklisten mit geeigneten Fragestellungen, entsprechend strukturierte Situations- bzw. Abklärungsberichte). C. Monodisziplinäre Beschwerdeinstanzen Auch unter dem revidierten Kindes- und Erwachsenenschutzrecht kann jeder Entscheid einer interdisziplinär zusammengesetzten KESB im Anfechtungsverfahren von Gerichtsinstanzen beurteilt werden, die nicht im hier geforderten Sinn interdisziplinär zusammengesetzt sind. Die Gerichtsinstanz setzt in einem devolutiven Rechtsmittelverfahren ihren Entscheid an die Stelle des Beschlusses der KESB und berücksichtigt dabei unter Umständen auch Entwicklungen, die sich im Verlauf des Anfechtungsverfahrens ergeben haben (Novenrecht). Misst man dem Gebot der Interdisziplinarität von Entscheiden im Kindes- und Erwachsenenschutz bedeutendes Gewicht bei, wäre grundsätzlich zu fordern, dass Beschwerdeverfahren kassatorisch (Rückweisung zur erneuten Beschlussfassung) auszugestalten sind und das Novenrecht eingeschränkt wird. Ein pragmatisches Vorgehen in diesem Spannungsfeld sieht nart. 450d ZGB vor: Der KESB ist im Rechtsmittelverfahren die Möglichkeit zur Vernehmlassung zu geben. Diese kann anstelle einer Vernehmlassung wiedererwägungsweise neu entscheiden. Ist die KESB allerdings nach wie vor von ihrer angefochtenen Entscheidung überzeugt, ist damit wenig gewonnen, es sei denn, die Rechtsmit- 182

19 Dörflinger, Interdisziplinarität gestalten ZKE 3/2010 telinstanzen würden eine «Nicht-ohne-Not-Praxis» anwenden 17. Ob und inwiefern die Eidgenössische Zivilprozessordnung und die dadurch oder durch die Revision des Vormundschaftsrechts notwendigen Anpassungen der kantonalen Einführungsgesetzgebung diese Überlegungen aufnehmen, bleibt abzuwarten. V. Schlussfolgerungen A. Relativierung der personellen Interdisziplinarität Die dargelegten Betrachtungen aus der Praxisperspektive führen zunächst zur Erkenntnis, dass die formell bzw. personell interdisziplinäre Zusammensetzung der KESB keine hinreichende Garantie bietet, dass die angestrebten Ziele der fachlichen und formellen Qualitätssicherung erreicht werden. Qualität kann und muss vielmehr auch mit einer bewussten Gestaltung der Prozesse, die bis zum Entscheid der Behörde ablaufen, positiv beeinflusst werden. B. Zielsetzung unbedingt weiterverfolgen Trotz dieser relativierenden Bemerkungen ist es vor allem im Hinblick auf die Interessen der betreuten Personen unerlässlich, das Ziel der Wiederherstellung der Hierarchie zwischen den zahlreichen und zunehmend spezialisierten Akteuren und der Entscheidungsinstanz beharrlich weiterzuverfolgen. Menschen, die freiwillig oder gegen ihren Willen mit einem Entscheid einer Vormundschaftsbehörde/KESB konfrontiert werden, sind in irgendeiner Form geschwächt und erhalten zur Kompensation dieser Schwäche eine Betreuungsperson zur Seite gestellt. Diese mit zum Teil sehr weitgehenden Befugnissen bzw. Macht ausgestatteten Betreuungspersonen müssen von einer kompetenten Behörde beauftragt sowie kontrolliert und beaufsichtigt werden, damit ein regelmässiger oder an entscheidenden Wegmarken notwendiger, kritischer Dialog mit Blick auf die (wohlverstandenen) Interessen der Betroffenen etabliert werden kann. 17 Eine «Nicht-ohne-Not-Praxis» würde ebenfalls auf kassatorische Entscheide hinauslaufen, mit denen im Falle der Gutheissung einer Beschwerde der Entscheid der KESB aufgehoben und an diese zurückgewiesen würde mit dem Auftrag, im Sinne der Erwägungen neu zu entscheiden. Davon ausgenommen werden müssten wegen der Schwere des Eingriffs: Entscheide über fürsorgerische Unterbringungen und Fremdplatzierungen mit Obhutsentzug sowie evtl. über Entzug/ Ein schränkung der elterlichen Sorge. 183

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